Tiermastbetreiber über Folgen des Skandals: "Schweine-Stau" im Stall: Erst nach Tönnies-Schließung wird Fleisch-Perversion sichtbar
Samstag, 11.07.2020, 18:24
Die Zwangsschließung der Fleischfirma Tönnies macht die Perversion einer ganzen Industrie sichtbar: Weil der Betrieb dort stillsteht, stauen sich in vielen Zucht- und Mastbetrieben jetzt die Schweine in den Ställen. Nicht nur die Tiere, sondern auch Landwirte leiden. Mitschuld trägt daran vor allem einer: der Verbraucher.
Seit gut drei Wochen steht der Schlachtbetrieb der Firma Tönnies coronabedingt still. Die gesamte Schweinefleisch-Industrie bekommt das nun zu spüren. Weil bis zu 20 Prozent der deutschen Schweine normalweise beim Branchenriesen geschlachtet werden, wird es nun eng in den Zucht- und Mastbetrieben der Republik: Die Ferkel und Mastsauen stauen sich in den Ställen.
So auch im Betrieb von Heinrich Gabriel aus Höxter mit seinen 2900 Mastplätzen. Sein Betrieb liefert ausschließlich an Tönnies, er ist vertraglich an den Branchenriesen gebunden. Seit das Hauptwerk in Rheda schließen musste, verkauft Gabriel durchschnittlich nur noch 100 statt 150 Schweine in der Woche. Gleichzeitig kommen immer neue Ferkel zur Mast in den Betrieb, beschreibt Gabriel im Gespräch mit FOCUS Online das aktuelle Problem: „Die Tiere werden bei unserem Züchter ja weiterhin geboren – das können wir nicht verhindern. Das Produktionsband lässt sich nicht einfach in wenigen Wochen abstellen."
Perverse Fleischindustrie: Die Schweine leben länger - und verlieren dadurch an Wert
Die Konsequenz des Schlacht-Stopps: Da am Ende der Mastkette weniger Platz frei wird, müssen sich aktuell mehr Ferkel auf engerem Raum zurechtfinden. Tierschützer warnen, die Enge in manchen Ställen könne dazu führen, dass die Schweine kollabieren oder sogar verenden. Auch Notschlachtungen könnten nötig werden, wenn nicht bald eine Lösung gefunden wird.
Im Betrieb von Tiermastbetreiber Gabriel haben die Schweine zwar noch den gesetzlich vorgeschriebenen Mindestplatz. "Ein Dauerzustand ist die Überbelegung aber nicht“, mahnt der Landwirt mit Blick auf das Tierwohl.
Doch nicht nur die Einhaltung von Tierhaltungsrichtlinien könnte in den kommenden Wochen problematisch werden. Neben dem geringeren Absatz entsteht vielen Mastbetrieben in Deutschland durch die verzögerte Schlachtung noch ein weiterer Schaden: "Der Handel verlangt genormte Schweine, bestenfalls mit einem Schlachtgewicht von 85 bis 100 Kilogramm", erklärt Gabriel. Weil die Tiere aktuell länger leben und dadurch an Gewicht zulegen, gibt es bei der Schlachtung Preisabzüge. Zusammen mit den höheren Futterkosten verursache jedes zu spät geschlachtete Schwein 10 bis 15 Euro Mehrkosten am Tag, rechnet Gabriel vor.
Dass es sich bei der Schweinefleisch-Produktion um eine hocheffiziente Industriemaschinerie handelt, wird im Gespräch mit Gabriel schnell deutlich. Innerhalb von nur vier Monaten werden aus 25 Kilo schweren Kleintieren schlachtreife 100 Kilo Sauen, für deren Haltung in Deutschland eine Fläche von 0,75 Quadratmeter pro Tier notwendig ist. Danach werden die stählern glänzenden Ställe gesäubert und die nächste Charge rückt auf.
Bio-Schweinefleisch: In Deutschland ein Nischen-Produkt
Viele Menschen empört nicht erst seit Tönnies gerade dieser industrielle Charakter, mit dem die Tiere an die Schlachtbank gezüchtet werden. Sie sprechen sich für mehr Tierwohl und Bio-Fleisch-Produkte aus, kritisieren profitgierige Großbetriebe und wollen mehr Regionalität - Forderungen, die komplett an der Realität vorbeigehen, kritisiert Masthalter Gabriel. "Den kleinen regionalen Bio-Öko-Schlachter gibt es in Deutschland doch so gut wie gar nicht. Die Menschen haben überhaupt keine Vorstellung mehr, wie Landwirtschaft in Deutschland aussieht."
Tatsächlich geben die Zahlen Gabriel recht. So lag der Bio-Anteil bei Schweinefleisch in Deutschland 2018 nach Angaben des „Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft“ bei unter einem Prozent. Insgesamt machte der Bio-Anteil bei Rot-Fleisch gerade einmal zwei Prozent des Gesamtvolumens aus. Bio-Fleisch ist in Deutschland also trotz anhaltender Diskussionen über Tierwohl und bewusstere Ernährung immer noch ein Nischenprodukt.
Das spüren auch Fleischproduzenten und Masthalter wie Gabriel. Für sie macht eine Umstellung auf Bio-Betrieb aus ökonomischer Sicht in vielen Fällen keinen Sinn, weil die Nachfrage nach teurerem und tierfreundlicherem Fleisch immer noch zu gering ist. Das und mangelnde Preisbereitschaft würden vom Handel direkt an die Fleischindustrie weitegegeben, meint Gabriel.
Die Antwort darauf ist eine ultra-effiziente Massenindustrie, in der kleine regionale Schlachter nur eine Randerscheinung darstellen und die vor allem die Lust der Deutschen nach preiswertem Fleisch stillt.
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EU-Richtlinien als realistische Maßnahme für mehr Tierwohl
Immer wieder wird argumentiert, das Verhalten der Konsumenten sei der Schüssel, um dem Tierwohl in unserer auf Effizienz und Masse getrimmten Fleischindustrie mehr Geltung zu verschaffen. Doch was, wenn sich ein kollektives Umdenken beim Fleischkonsum in Deutschland seit Jahren nicht einstellen will?
Auch dazu hat Gabriel eine klare Meinung. Natürlich könnten Mastbetreiber Geld in die Hand nehmen und so das Leben der Tiere angenehmer gestalten. Schon 20 Prozent mehr Platz im Stall, so Gabriel, würden das Tierwohl deutlich erhöhen. Im spezifischen Fall der Schweinemast sei es zudem wichtig, die Ställe in Zukunft nicht mehr wie klinisch saubere OP-Säle zu bauen, sondern an die kognitiven Fähigkeiten der Tiere anzupassen. „Schweine sind extrem schlau und langweilen sich während der Mast", sagt Gabriel.
Mehr Tierwohl erfordert höhere Fleischpreise - und raubt Deutschlands Fleischproduzenten Wettbewerbsfähigkeit
Doch all solche Investitionen in das Tierwohl treiben die Kosten für die Fleischproduzenten in die Höhe. Diese können nicht - wie viele vorschlagen - einfach durch einen direkten Preisaufschlag gedeckt werden. Der Grund: die Markmacht der großen Handelsketten. "Sie würden nicht davor zurückschrecken, im Fall von höheren Fleischpreisen ihre Ware einfach aus dem Ausland zu beziehen", sagt Gabriel. Merken würde das der Verbraucher nicht.
Für mehr Tierwohl in der Fleischindustrie brauche es daher EU-weite Richtlinien. Nur wenn für alle die gleichen Bedingungen gelten, ließen sich vertretbar höhere Preise und damit eine Verbesserung der Tierwohl-Standards durchsetzen, fordert Gabriel. Die ökonomischen Zwänge, denen gerade die Zulieferer in der Fleischindustrie unterliegen, sind also groß. Die EU könnte daran etwas ändern. Die größte Macht, um in der Branche etwas zu verändern, hat aber immer noch jene Gruppe, die sich in diesen Tagen am lautesten empört: die Verbraucher selbst.
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bhi/
July 11, 2020 at 11:24PM
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